SHOWMAN DES SHOPPINGS

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Harry Gordon Selfridge und sein Kaufhaus heute

VON NORA MANTHEY & SANDY STRASSER

(Veröffentlicht in Das Produktkulturmagazin Ausgabe 1 2015)

“Bitte schauen Sie, fassen Sie ruhig alles an!“ So könnte man Selfridges Ansatz gegenüber Kunden zusammenfassen. In der U-Bahn Station Bond Street weisen Schilder Kauflustigen den Weg zu dem Kaufhaus, das seit 1909 das westliche Ende der Londoner Oxford Street dominiert. Ganz im Sinne des Gründers, Harry Gordon Selfridge, der seinen Laden gern zu den Attraktionen der britischen Metropole, gleich dem Tower of London und Westminster Abbey, zählte.

Als Selfridges im März 1909 seine Türen öffnet, kommen 100.000 Menschen. Nach einer Woche hatten eine Million Londoner das neunstöckige Kaufhaus im Art-déco-Stil besucht. Angelockt hatte sie die Aussicht, Waren aus aller Welt zu sehen und ausdrücklich anfassen zu dürfen – eine Revolution im London des frühen 20. Jahrhunderts. Heute findet ein ähnlicher Ansturm wohl nur bei der Vorstellung eines neuen Apple-Produkts statt. Wie Steve Jobs war auch der Gründer von Selfridges ein Mann mit Charisma, welches auf die Marke abstrahlte.

Harry Gordon Selfridge, der sich gern Harry und von seinen Mitarbeitern „Chief“ nennen lässt, ist Amerikaner. Als ein „Selfmade-Man“ wie sie nur die ehemalige Überseekolonie hervorbringen konnte, beherrscht er das Repertoire der Selbstvermarktung perfekt und Selfridges damit die Schlagzeilen. Während der Eröffnungswoche gibt Selfridge 36.000 Pfund für Werbung aus (heute entspricht das etwa zwei Millionen britischen Pfund) und bringt es so auf 104 Seiten in 18 britischen Zeitungen.

Selbst aus einfachen Verhältnissen und ohne Vater aufgewachsen, arbeitet sich Harry in Chicago nach oben. Bei Marshall Field & Company schafft er es in 25 Jahren, vom Lagerhelfer zum Juniorpartner mit beträchtlichem Vermögen aufzusteigen. Bei Marshall’s lernt er sein gern wiederholtes Credo „Der Kunde hat immer Recht“ und auch, wie man den Frauen gefällt. Diese sind es schließlich, die maßgeblich für die Entwicklung des Kaufhauses zur modernen Begegnungsstätte verantwortlich sind.

Als Mr. Selfridge um 1906 mit großen Plänen in die alte Welt reist, findet in London Shopping meist in vollgestopften Läden auf Straßenhöhe statt. Der damals 50 Jahre alte Harry, den seine Biographin Lindy Woodhead als „Beschleuniger der Veränderung“ bezeichnet, träumt davon, Einkaufen zu glamouröser Unterhaltung umzudeuten, die jedem offen steht. Seine Vorbilder findet er in Au Bon Marché in Paris, seinem alten Arbeitgeber in Chicago und Stewart’s in New York. Vor allem in der egalitäreren neuen Welt hat sich Shopping längst von einer Notwendigkeit in ein Vergnügen verwandelt und findet in eigens dafür errichteten Gebäuden statt.

Selfridges hat eine Verkaufsfläche von 50.000 Quadratmetern und ist damit noch heute das zweitgrößte Kaufhaus Großbritanniens, nur Konkurrent Harrods ist doppelt so groß. Zur Zeit des Baus ist Selfridges der erste „Department Store“ im Londoner West End, der nur für diesen Zweck geschaffen wird – ein Konsumtempel im wahrsten Sinne des Wortes. Stöbern, wie man es heute online tut, ist bei Selfridges oberstes Gebot und unterscheidet das neue Haus maßgeblich von der Konkurrenz, bei der Produkte in Boxen sicher hinter dem Tresen lagern und sogenannte „Walker“ ausdrücklich zum Kaufen statt Gucken auffordern.

Neben Waren stellt das Kaufhaus die moderne Technik seiner Zeit zur Schau: neun Aufzüge, in denen „Liftgirls“ in eigens designten Uniformen Dienst tun, elektrisches Licht im ganzen Gebäude, hohe Schaufenstern, ein Telefon an jeder Kasse sowie Heizung im Winter und Luftkühlung im Sommer. Seine Kunden nennt Harry gern „Besucher“ und bietet ihnen einiges. Als Selfridges 1909 das Flugzeug von Louis Blériot ausstellt, in dem dieser den Kanal überquert hat, lockt das 12.000 Schaulustige, denen gleichzeitig Accessoires im Flieger-Look angeboten werden. 1925 findet die erste öffentliche Präsentation des Fernsehers von John Logie Baird im Hause statt. „Wenn die Fantasie erst mal in Bewegung kommt, geht die Hand ganz von selbst zum Portemonnaie“, lautet Selfridges Devise.

Unter dem neuen Eigner, dem Kanadier Galen Weston, der Selfridges 2003 für 628 Millionen Pfund (720 Millionen Euro) übernahm, feierte das Traditionshaus im Jahr 2009 sein 100. Jubiläum. Weston setzte 2004 seine Tochter Alannah auf den Posten des Creative Directors – und sie orientierte sich von Anfang an am Geist des Gründers. Gegenüber Forbes erwähnte Alannah, dass unter ihrer Leitung die 26 Schaufenster von Selfridges zum Andenken an Harry dekoriert wurden. Auch im Wirken der ehemaligen Kunstkritikerin ließ sich ein bisschen „Harry“ erkennen. Alannah schuf die „Ultralounge“, in der Kunstinstallationen wie „Luminous“ von Brian Eno 2007 oder Shows wie „Future Punk“ zum 30-jährigen Jubiläum der Bewegung 2006 stattfanden. Heute dreht sich die In-Store-Promotion mehr um Produkte als um Sensation, doch werden für die Waren innovative Verkaufsflächen geschaffen, wie 2007 der „Wonder Room“ für Juwelen. 2010 folgen die „Shoe Galleries“, die mit 3.252 Quadratmetern das größte Schuhgeschäft der Welt darstellen und in Themenräume wie die Replik von Coco Chanels Apartment einladen. Zur Eröffnung kamen Prominente wie die Modedesignerin Vivienne Westwood oder die Sängerin Alexandra Burke.

Im März startet das „Agender“-Projekt, bei dem alle drei Mode-Etagen des Hauses sich geschlechtsneutral geben und Kleidung anbieten, die Männer und Frauen gleichermaßen tragen können. Linda Hewson, Alannah Westons Nachfolgerin als Creative Director, beschreibt Agender gegenüber der Presse als den Versuch, auf einen bereits stattfindenden „kulturellen Wandel“ zu reagieren und „die Art, wie wir Mode kaufen“ zu verändern. Man mag es bei Selfridges immer noch ungewöhnlich.

Harry hätte das gefallen. In der Fernsehserie „Mr. Selfridge“, die sich dramatisch an Seifenopern anlehnt, kommt Harrys Liebe zu den Frauen in zahllosen Liebschaften zum Ausdruck. Dennoch flossen damals aktuelle Themen wie die feministische Suffragette-Bewegung ein, der gegenüber Selfridges sich progressiv gab. London Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Klassengesellschaft im Umbruch. Die Industrialisierung sorgte für neues Geld und den Beginn der Emanzipation der Frau durch Arbeit. Das Kaufhaus eröffnet Kundinnen einen gesellschaftlich akzeptablen Ausweg aus der Enge des eigenen Hauses. Bei Selfridges findet das illustre Geschlecht im „Palm Court Restaurant“ einen beheizten Treffpunkt, der den Clubsalons für Männer nicht unähnlich ist.

Alannah Weston, heute Stellvertretende Vorsitzende der Selfridge-Gruppe, ist sich auch dieses Erbes bewusst, beschreibt sie Harry doch als „Pro-Frau“, der die Idee des „Handels als Theater“ einführte. Bei aller Theatralik geht es jedoch damals wie heute um Zahlen. Bereits Harry Selfridge ließ sich damals einiges einfallen, um die Schaulustigen dazu zu bewegen, das Portemonnaie zu zücken. Harry hatte seine Methoden aus Chicago mitgebracht und mit Einführung des „Bargain Basement“ (Schnäppchenmarkt) Kunden mit geringerem Einkommen angelockt, befriedigt und von mehr träumen lassen. Sein egalitärer Ansatz bedeutete für den Kaufmann vor allem mehr potenziellen Umsatz. Damit setzte Harry Standards, welche die Welt der Kaufhäuser veränderten und bis heute gültig sind. Er war es, der Make-up aus der Apotheke holte und ins Erdgeschoss eines Kaufhauses verlegte. Wird man heute beim Betreten jedes Kaufhauses von Parfümduft eingehüllt, galt Eau de Toilette vor Selfridges als wohlgehütetes Geheimnis der Frau.

Auf die englischen Gentlemen musste der Businessman, der sich für keine Show zu schade war, schockierend gewirkt haben. Doch sein Erfolg gab ihm Recht und so bekam er bald den Spitznamen „Earl of Oxford Street“.

Selfridges Liebe zur Show und zum Glamour zwingt ihn jedoch am Ende in die Knie. Bekannt für skandalöse Affären, Spielsucht und exzessiven Lebensstil, der sich spätestens in der Weltwirtschaftskrise nicht mehr finanzieren lässt, zwingen seine Anteilseigner Harry 1938 dazu, die Bühne zu verlassen. Mit 83 Jahren wird er zum Pensionär wider Willen und stirbt praktisch verarmt. Hinterlassen hat er Europa die Idee des Shoppings als vergnügliche Show und ein Kaufhaus, das noch in Zeiten von Amazon & Co. Schaulustige lockt und zum Konsum anregt.

HINTER DEN KULISSEN
Interview mit Schauspieler Jeremy Piven

Mr. Piven, wie fühlt sich Harry zu Beginn der dritten Staffel?

jeremy piven: Es ist eine traurige Zeit für ihn. Wie wir aus der zweiten Staffel wissen, war er gerade dabei, sein Leben und seine Ehe wieder ins Lot zu bekommen. Er war sich bewusst geworden, auf was es ankommt, und war nicht mehr Sklave seiner Dämonen und Triebe. Er war die Art von Mann, die er immer sein wollte. Die dritte Staffel beginnt jedoch dramatisch mit der Beerdigung seiner Frau Rose. Die Verarbeitung ihres Todes zieht sich für Harry durch die ganze Staffel. 

Wie ist es, über mehrere Staffeln eine Figur zu spielen, von der man weiß, was letztendlich mit ihr geschieht?

J. P.: Darin liegt gerade der Spaß. Er hat etwas Faszinierendes an sich, das die Leute gleichzeitig anzieht und abstößt, und es ist meine Aufgabe, das zu transportieren. Man darf über die Person, die man spielt, nicht urteilen. Auch, wenn man das Skript bereits gelesen hat, muss man sein Vorabwissen beiseiteschieben und den Moment spielen.

Freuen Sie sich darauf, dass Harrys Seele immer „dunkler“ wird?

J. P.: Es kommen einige wilde, aber auch tragische Zeiten auf Harry zu. Ich freue mich darauf, das alles zu spielen. Das ist auch, was so viel Spaß an dieser Serie macht – man steigt als Zuschauer in die ganze Tiefe der Charaktere, ihrer Beziehungen und ihrer Geschichten ein, muss sich aber kein Zwei-Stunden-Format ansehen. Ich glaube wirklich, dass wir in einem goldenen Zeitalter des Fernsehens leben. Viele große Drehbuchautoren kämpfen um die Aufmerksamkeit der Zuschauer und feuern sich dadurch gegenseitig an.

Warum denken Sie, dass Mr. Selfridge im Ausland so gut ankommt? 

J. P.: Ich denke, Harry stellt diese Art von Gemüt dar, die verborgen in jedem von uns steckt. Wie verschiedene Kulturen mit dieser Serie umgehen, ist eines der faszinierendsten Dinge an dieser Serie. Diesem speziellen amerikanischen Can-do-Spirit kann man sich in vielen Ländern nicht entziehen. 

Wussten Sie gleich, dass Harry eine tolle Figur zum Darstellen sein würde? 

J. P.: Ja. Noch bevor ich das Drehbuch las, dachte ich: Wow, das ist ein interessanter Stoff! Ich komme aus Chicago und kenne Marshall Field, wo Harry arbeitete. Dort gingen auch schon meine Mutter und Großmutter ein und aus. Sie haben mir davon erzählt, wie das Selfridge damals war, als Harry seinen Fußabdruck hinterlassen hatte. Er wollte einen Ort erschaffen, an dem sich die Menschen willkommen fühlen. Die Produzenten und Drehbuchautoren hatten sich intensiv mit den Charakteren auseinandergesetzt und wussten, wohin die Reise gehen sollte. Ich war einfach nur begeistert und geehrt, dass sie mich baten, ein Teil davon zu sein. 

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JEREMY PIVEN

Jeremy Piven ist 1965 in Chicago geboren. Von 2004 bis 2011 spielte er den Schauspielagenten Ari Gold in der HBO-Serie „Entourage “, eine Rolle, für die er viermal für den Emmy nominiert wurde und dreimal in Folge gewann. 2008 wurde er dafür sogar mit einem Golden Globe Award als Bester Nebendarsteller ausgezeichnet. Piven war vorher bereits in der kurzlebigen ABC Drama-Serie „Cupid“ zu sehen, und war Ensemblemitglied der Comedyserie „Ellen“.

selfridges.com

Picture credits © ITV Studios Limited


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