IM UNIVERSUM DES LEBENS

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Udo Lindenberg und die „Heiligsprechung der Individualität“

VON SANDY STRASSER

(Veröffentlicht in Das Produktkulturmagazin Ausgabe 2 2015)

Er ist das Gesicht der deutschen Rock- und Popmusik. Seit über 40 Jahren prägt Udo Lindenberg unsere Gesellschaft mit Songtexten, die unser Bewusstsein für menschliches Miteinander und soziales Engagement schärfen, zugleich aber auch Einblicke in sein Innerstes gewähren. Inspiriert durch den Dichter und Denker Hermann Hesse und dessen Hochachtung vor dem Individuum, hat der Entertainer schon etliche musikalische Hymnen verfasst. Vor allem bei seinen Liveauftritten beschert er seinem Publikum immer wieder Gänsehautmomente. So auch bei seiner großen Stadion-Tour, die bereits im vergangenen Jahr rund 200.000 Fans fesselte. Wir haben den Charaktermusiker zum Interview getroffen und über das Großprojekt „Stadion-Tour“ sowie die Arbeit seiner Stiftung gesprochen.

Was war der Beweggrund für Ihre Stadion-Tour?

Udo Lindenberg: Ich wollte die Energie spüren von 70.000 Menschen und mehr. Das ist wie eine Art große Familienfeier. Sehr bewegend und intensiv. Und ich wollte einmal die grandiosen technischen Möglichkeiten austesten, die sich einem bieten, wenn man eine solche Show macht. Hightech mit coolen Spidercams und Fluggeräten, die wir entwickelt haben und mit denen ich über das Publikum schweben kann. Ich bin ja ein Spielkind, ein Abenteurer, und das Stadion ist für mich mein Abenteuerspielplatz. Und ich bin jemand, der sehr gerne abhebt. Mit unserer Tour durchbrechen wir die Anonymität eines solch gigantischen Raums und verbreiten stattdessen Intimität. Ich kann den Leuten praktisch direkt in die Seele singen. 

Steckt in gewisser Weise auch ein politisches Motiv dahinter?

U. L.: Ja, denn ich wollte nie nur Entertainer sein. Ich wollte immer mit ganz vielen Leuten zusammen sein, Initiativen gründen und mich einschalten in die Gestaltung der bunten Republik Deutschland. Das hat sozusagen den Grundstein gelegt für meine politische Sensibilität. Diese möchte ich ein Stück weit an mein Publikum weitergeben. Und in dieser Form macht das besonders Spaß.

Mit Ihrer Musik setzen Sie seit jeher ein Zeichen für mehr Toleranz. Für was steht die Udo Lindenberg Stiftung, die Sie 2006 gegründet haben? 

U. L.: Ich stand schon mit jungen Jahren unter dem Einfluss der Bücher von Hermann Hesse. Seine „Heiligsprechung der Individualität“, also seine extreme Hochachtung vor jedem Individuum hat mich schon früh geprägt. Wir müssen endlich lernen, über die Grenzen hinwegzuschauen. Denn als Planetenbewohner haben wir eine Mitverantwortung dafür, was in anderen Teilen der Erde geschieht. Daher haben wir vor einigen Jahren die Stiftung ins Leben gerufen, damit beispielsweise Waisenhäuser, Schulen oder Wasseraufbereitungsanlagen in Afrika gebaut werden und Aidsaufklärung betrieben wird. Das alles machen wir, und es läuft sehr gut. Und wir unterstützen Leute, die im Sinne von Hermann Hesse freche Texte mit Haltung schreiben. Unterhaltung mit Haltung sozusagen. Dazu veranstalten wir alle zwei Jahre einen Contest, bei dem die jungen Steppenwölfe unserer Gesellschaft die Möglichkeit bekommen, das zu sagen, was sie zu sagen haben.

Was denken Sie, welches Vorbild können Kinder und Jugendliche für die Gesellschaft sein? 

U. L.: Sie zeigen uns reine Unbekümmertheit. In ihrer Welt gibt es keine Taktik, nur Spiellust. Das ist unglaublich erfrischend.

Wo und wann haben Sie die Literatur des Schriftstellers und Humanisten Hermann Hesse für sich entdeckt? 

U. L.: Hermann Hesse ist mir zum ersten Mal in meiner damaligen WG begegnet. Da brachte einer so ein Buch mit – „Demian“. Das Vorwort mit der Ode an die Individualität fand ich absolut irre. Er hatte es sehr sehr schön formuliert. Das Unmögliche angehen, um das Mögliche zu erreichen. Oder: „If you can dream it, you can do it.“ So lebe ich auch.

Welches Werk von ihm hat Sie am meisten fasziniert und weshalb? 

U. L.: „Siddhartha“, weil es angelehnt ist an den Buddhismus. Aber dann habe ich es auch gleich wieder aus der Hand gelegt, weil ich merkte, dass es mich zu cool macht. Ich wollte zu dieser Zeit mehr Rebellion, mehr Aufstand. Und das ließ sich nicht arrangieren mit der Welt von Siddhartha. Aber ich finde es schön, auf der Suche nach einem tieferen Sinn im Leben bzw. der Überordnung des Lebens zu sein. Und was ich natürlich ganz toll fand und dem Buch gleich abgelesen habe, ist der Ansatz, herauszufinden, was alle Weltreligionen, alle Weltkulturen verbinden kann. Trotz aller Unterschiede. Was schwebt noch über all dem, was für alle Menschen gelten kann, was uns alle über die Religion und Politik hinaus verbindet? Das zu finden, dieses unsichtbare Band. Eine Art Menschenkette, die um den ganzen Globus geht.

Welche Gemeinsamkeiten haben Udo Lindenberg und Hermann Hesse?  

U. L.: Er war immer auf der Suche, und das bin ich auch. Für ihn war bereits mit 15 Jahren klar, dass er Schriftsteller werden wird oder gar nichts. So ähnlich war es auch bei mir. Ich wusste auch schon früh, dass ich Trommler werden will. Zwar galt Musik damals, wie auch heute, als unsicherer Beruf, aber ich wusste immer, dass ich eines Tages etwas Großes werden würde, was die Musik angeht. Es gibt also viele Parallelen zwischen ihm und mir. Er war quasi immer eine Art „Soulberater“ für mich.

Vor einigen Jahren reisten Sie auf den Spuren des Schriftstellers ins Tessin und erforschten die letzten Stationen seines Lebens. Wie haben Sie sich während dieser Zeit gefühlt? Was hat Sie besonders bewegt?   

U. L.: Ich war bereits mehrfach in Gaienhofen, Montagnola, Bern, Basel und Zürich. Ich habe geschaut, wo und wie er dort gewohnt hat, was es von alledem heute noch gibt. Wo war er unterwegs, was hat er gerne gemacht? Er war einfach sein ganzes Leben ein Suchender. Zwar hatte er eine Familie, er kam aber mit dem Familienleben drumherum nicht klar, mit diesem In-Anspruch-genommen-Sein. Er war vielmehr sein eigenes Universum. Bei mir ist das auch so. Dennoch bin ich mit vielen Kindern und deren Familien befreundet, und wenn wir zusammen unterwegs sind, ist das auch immer schön. Aber es gibt den Spruch: „Kunst ist eine fordernde Geliebte, die keine sonstigen Liebschaften zulässt.“ Damit ist das bürgerliche Leben gemeint, das keinen Platz findet, wenn man in irgendeiner Weise als Künstler lebt und arbeitet. Denn als solcher muss man immer „ready“, immer auf dem Sprung sein. Da sein, wo die Genieblitze blitzen. Man muss immer unterwegs sein und neugierig bleiben. So ist mein Leben – ein Abenteurer- und Entdeckerleben. Ich fühle mich deswegen manchmal auch wie der Bruder von James Cook.

„VIVOS VOCO!“ (übersetzt: „Ich rufe die Lebenden!“) stand auf dem Titel Hermann Hesses politisch-literarischer Monatszeitschrift, die er 1919 gründete. Sie war für die Erinnerung an die Opfer des Krieges und gegen den aufkeimenden Antisemitismus. Wie würde Ihr Titel lauten?   

U. L.: „Konsequenz hat einen Namen“.

Unterhaltung ohne (politische) Haltung ist auch für Sie undenkbar. Was kann jeder Einzelne tun, um die Welt ein kleines Stück gerechter und friedvoller zu machen?  

U. L.: Sich bilden. Sich nicht nur flacher Werbung und flachem Entertainment hingeben. Sondern genau hinschauen und eine gewisse Sensibilität entwickeln für die Dinge, die auf der Welt jeden Tag geschehen. Dazu gehören unter anderem die Themen Religion und Kultur im Kleinen und Großen. Und eine Grundausbildung in Sachen Weltpolitik sollte man sich erlauben. Auch ganz junge Leute. Unser Musical „Hinterm Horizont“ beispielsweise öffnet diese Türen auf spielerische Weise. Es zeigt die junge deutsche Geschichte mit tollen Songs und einer schönen Lovestory. Denn für viele ist dieser Abschnitt deutscher Geschichte schon viel zu weit weg. Doch man muss immer wissen, woher man kommt und wohin man geht.

Nach welchen Idealen leben Sie?   

U. L.: Wenn ich irgendwann einmal abtreten muss, möchte ich die Welt ein Stückchen besser hinterlassen, als ich sie bei meiner Geburt vorgefunden habe.

Was bedeutet für Sie „individuelle Freiheit“?   

U. L.: Individuelle Freiheit ist eine Herausforderung. Es ist eine Mutfrage: Wie weit traue ich mich zu gehen? Viele Leute machen es sich bequem und gehen den Weg des geringsten Widerstandes. Sie erreichen nicht viel an individueller Freiheit. 

Beschreiben Sie den Fußabdruck, den Sie auf der Welt hinterlassen möchten. 

U. L.: Nicht großspurig, aber auch nicht bescheiden. Einen Realfuß und einen, den man sich malen kann. Und der würde bei mir nicht ganz so bescheiden ausfallen. Es wären keine kleinen Trippelschrittchen, sondern eher etwas in Richtung Siebenmeilenstiefel.

Hermann Hesse pflegte zu Lebzeiten bewusst die Kunst der Korrespondenz. Insgesamt hat er etwa 35.000 Briefe geschrieben. Wie wichtig ist für Sie die persönliche Kommunikation mit Stift und Papier?  

U. L.: Total. Ich male auch sehr viel. Malerei ist für mich Entspannung, aber auch totale Leidenschaft. Manchmal rase ich geradezu anfallartig in mein Atelier und male die Nächte durch. Die Malerei ist für mich ein großer Bestandteil meiner Kunst. Es ist eine andere Ausdrucksform meiner Fantasie.

Was verleiht Ihnen Inspiration?  

U. L.: Unterschiedliches, was mich gerade so bewegt. Das können bestimmte Situationen oder Visionen sein, die ich festhalten möchte.

Welche Visionen haben Sie für die kommenden Jahre?   

U. L.: Ich möchte gerne in die UNO-Vertretung. Denn meiner Meinung nach muss sich die Institution wieder zu ihren Grundstatuten bekehren, die ähnlich dem deutschen Grundgesetz sind.

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Picture credits © Tina Acke


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