HUNDERT TAGE TIBET

HUNDERT TAGE TIBET

Ein persönliches Porträt in faszinierenden Bildern

VON ANJA FAHS

(Veröffentlicht in Das Produktkulturmagazin Ausgabe 1 2015)

Im Jahr 2011 begleitete der Fotograf York Hovest den Dalai Lama während seines Deutschlandbesuchs. Tief beeindruckt von dieser Begegnung gab er ihm das Versprechen, sein Land zu porträtieren und der Welt zu zeigen, wie es dort heute aussieht. Nach einer einjährigen Vorbereitung für diese epische Reise machte sich York Hovest auf eine atemberaubende Expedition: Hundert Tage lang war er in Tibet unterwegs — zu Fuß, auf dem Motorrad und mit dem Auto. Immer wieder wagte er sich in schwer zugängliches und verbotenes Terrain, in das Besucher nur selten vordringen. 

Heute sagt York Hovest, dass ihm dieses Unterfangen nur mit der tatkräftigen Hilfe der Tibeter gelang, die ihn an ihrem Leben teilhaben ließen und ihm großes Vertrauen entgegenbrachten. Er begleitete sie zu geheimen Orten, gelangte bei minus 30 Grad in 6.000 Meter Höhe an die Grenzen seiner physischen Belastbarkeit und die seiner Kameraausrüstung. In eindrucksvollen Bildern fängt er nicht nur die erhabene Landschaft ein, sondern mit ergreifenden Porträts tibetischer Nomaden und Mönche auch die Seele dieses geheimnisvollen Landes. 

Wir sprachen mit York Hovest über die schönsten und auch die schwierigsten Erlebnisse seiner Reise im geheimnisvollen Tibet und darüber, wie seine Bilder entstanden.

Als Sie mit dem Dalai Lama gesprochen hatten und dann den Entschluss zu dieser Reise trafen, hatten Sie wahrscheinlich eine bestimmte Vorstellung von Tibet. Hat das Land Ihren Erwartungen entsprochen oder Sie doch völlig überrascht?

York Hovest: Irgendwie ein wenig von beidem. Zunächst hatte ich ja eine recht verschleierte Vorstellung von Tibet. Auf der einen Seite wird Tibet sehr stark mystifiziert. Ein sagenumwobenes Shangri La – Paradies mit bunten Fahnen und strenggläubigen Menschen. Das geheimnisvolle Dach der Welt. Auf der anderen Seite erfährt man viel Schlimmes über die politische Situation Tibets. Unterdrückung, Zerstörung, Zwangsenteignungen. Irgendwo dazwischen lag meine Einschätzung. Der Dalai Lama hat mir natürlich geholfen, aufmerksam alle Details zu sortieren, die man hier aus den Medien erhält.

Wie haben Sie sich auf die Reise vorbereitet, körperlich und auch mental? 

Y. H.: Nachdem ich den Brief an den Dalai Lama geschrieben hatte, begann ich sofort damit, mich auf die Expedition vorzubereiten. Zwar wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie ich das alles finanzieren sollte, aber der Wille, dieses Projekt durchzusetzen, war so stark, dass ich mich kopfüber in die Planung gestürzt habe. Dabei habe ich natürlich auch recht schnell gemerkt, dass eine Expedition nach Tibet nicht mal eben so organisiert werden kann. Eine Menge Dinge musste ich in den darauffolgenden Monaten lernen. Mental wie auch körperlich. Geduld spielte dabei eine entscheidende Rolle, denn vieles klappt nicht auf Anhieb. Die Vorbereitung dauerte letztendlich fast ein Jahr. Körperlich musste ich den Anforderungen der Berge gewachsen sein. Tibet wird ja nicht umsonst als „Dach der Welt“ bezeichnet. Also recherchierte ich, sprach mit Menschen, die dort waren, arbeitete meine Reiseroute immer weiter aus. Regelmäßig ging ich zum Bergsteigen und ins Fitness-Studio, wo ich fast täglich mit meinen Expeditions-Stiefeln auf dem Stepper stand. Und ich lief jeden Tag mit einem schweren Rucksack ins Büro und wieder zurück, um zu testen, wie viel meine Schultern tragen können.

Was sollten Reisende, die im Himalaya unterwegs sind, unbedingt beachten und in ihrer Ausrüstung dabei haben? Was würden Sie empfehlen? 

Y. H.: Das ist immer ein bisschen davon abhängig, wie hoch man will und wie weit man sich von der Zivilisation entfernt. Ab Höhen über 5.000 Meter sollte man die entsprechenden Medikamente für den Notfall unbedingt bei sich haben. Genug Wasser und Süßigkeiten sind ebenfalls wichtig. Auch das richtige Outfit ist ratsam. Man muss es nicht übertreiben, aber das Zwiebel-Prinzip hat bei mir immer ganz gut funktioniert. Doch der allerwichtigste Part einer solchen Reise ist, denke ich, die Akklimatisation. Man muss auf seinen Körper hören und ihm die nötigen Ruhepausen geben, sonst kann eine Reise schneller vorbei sein, als einem lieb ist. 

Was waren – abgesehen von den körperlichen Belastungen und der Akklimatisierung an die Höhe – unterwegs im Land die größten Herausforderungen und Widrigkeiten, denen Sie sich stellen mussten?  

Y. H.: Die größte Herausforderung für mich waren die täglichen Auseinandersetzungen mit meinem chinesischen Guide. Da ich ja stets zu Orten wollte, zu denen er mich gar nicht lassen durfte, stritten wir regelmäßig. Zweimal wurde dieser Guide auf meinen Expeditionen ausgetauscht. Dann gingen die ganzen Diskussionen wieder von vorn los. Dabei musste ich immer darauf achten, nicht zu sehr übers Ziel hinauszuschießen, sonst hätte ein Anruf von ihm genügt, und ich hätte Tibet verlassen müssen.

Was hat Sie auf dieser Reise am meisten beeindruckt?   

Y. H.: Am meisten haben mich die Tibeter selbst beeindruckt. Diese scheinbar unendliche Kraft, die sie aus ihrem Glauben schöpfen, ist faszinierend. Tibeter sind sehr stolz auf ihre Geschichte und ihre Kultur. Irgendwie haben sie es geschafft, sich Teile davon zu bewahren. Jeder von ihnen auf seine eigene Weise. Aber auch mein Sherpa, der mich auf beiden Reisen begleitet hat, hat mich sehr beeindruckt. Seine Loyalität hat mir einige Male den Kopf gerettet.

Inwieweit unterscheidet sich Tibet von allen anderen Ländern, die Sie bisher bereist haben? Was macht dieses Fleckchen Erde so besonders?    

Y. H.: Die Geschichte und Kultur dieses vom Untergang bedrohten Landes machen diesen Teil unserer Erde einzigartig. Das Land strotzt nur so von Superlativen, die weit über unsere Vorstellungskraft hinausgehen. Natürlich gibt es viele andere Länder, von denen man zu Recht dasselbe behaupten kann, doch ich verbinde Tibet ja auch mit einer persönlichen Sache – meinem Versprechen. Dennoch habe ich noch nie zuvor in meinem Leben so viele emotionale und körperliche Extreme erlebt wie in Tibet.

Tibet ist ein sehr spirituelles Land. Hat es auch Sie auf irgendeine Art und Weise verändert?    

Y. H.: Ich glaube, nach meinen Erfahrungen in Tibet bin ich ruhiger, überlegter geworden. Ich lasse mich nicht mehr so schnell stressen, sehe vieles entspannter. Es liegt sehr viel Frieden in dieser Religion.

Sie haben es bereits angesprochen: Das Land befindet sich in einer nicht ganz einfachen wirtschaftlichen und vor allem schwierigen politischen Lage. Wie bewältigen die Tibeter ihren Alltag, wie haben Sie das erlebt?    

Y. H.: Ein Beispiel: Ich habe Tibeter erlebt, die auf uralten Wegen gepilgert sind, obwohl diese Pfade heute unter einer mehrspurigen Schnellstrasse begraben sind. Viele von ihnen gehen noch immer auf dem ursprünglichen Weg, mitten zwischen den Autos. Diese Szene ist für mich bezeichnend für ein Volk, das so viel Leid und Ungerechtigkeit erfahren musste.

Sind Sie selbst mit Restriktionen oder irgendwelchen Einschränkungen konfrontiert worden, während Sie im Land unterwegs waren?     

Y. H.: Natürlich. Jeden Tag musste ich mich gegen die Verbote unseres Guides durchsetzen. Man muss sich einiges gefallen lassen und man bekommt einiges Unschöne zu sehen. Am Härtesten traf es mich, als ich während meiner ersten Expedition das Land verlassen musste, noch bevor ich meine Route beenden konnte. Zu dieser Zeit gab es wieder einige Unruhe in Tibet und nachdem ich versuchte, mich dennoch weiter fortzubewegen, wurde ich sehr deutlich dazu aufgefordert, unverzüglich auszureisen.

Sie waren teilweise in sehr abgelegenen Gegenden unterwegs, in der nicht oft Fremde zu finden sind. Wie reagierten die Tibeter, wenn sie Sie mit der Kamera sahen, wie gewannen Sie das Vertrauen der Bevölkerung, um so unglaubliche Fotos machen zu können?     

Y. H.: Das Vertrauen Fremder zu gewinnen, ist für mich nicht schwer. Ich versuche mich stets so gut es geht anzupassen, das merken die Menschen meist. So findet man auch schnell erste Gesprächsthemen. Aus einigen entstehen ganz besondere Situationen, die ich dann mit der Kamera festhalte. In den weiter entfernten Regionen hat mir mein Sherpa mit seinem Tibetisch den ersten Kontakt ermöglicht. Die ersten Reaktionen auf mich oder das Equipment waren jedoch stets voller Neugier und Freundlichkeit.

Wenn Sie nochmals am Anfang dieser Reise stehen würden: Gibt es etwas, was Sie anders machen würden?     

Y. H.: Nein, ich glaube nicht – außer, dass ich mehr Zeit mitbringen würde, um noch mehr sehen zu können.

Welches Land würden Sie gerne als nächstes mit der Kamera kennenlernen, was würde Sie reizen?     

Y. H.: Mein nächstes Projekt wird mich in den brasilianischen Dschungel zu den indigenen Völkern führen. Auch diese Kulturen sind vom Untergang bedroht und ich möchte ihnen mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Es ist ein sehr sensibles Thema, aber das heißt nicht, dass wir es unter den Tisch kehren dürfen.

Kommen wir zu Ihrem Beruf als Fotograf. Welche Voraussetzungen muss man Ihrer Meinung nach mitbringen, um ein guter Fotograf zu sein?     

Y. H.: Man muss Leidenschaft und Liebe für das empfinden, was man tut. Das spiegelt sich dann auch in den Bildern wider. 

Haben Sie ein persönliches Lieblingsmotiv, das Sie immer wieder gerne fotografieren?     

Y. H.: Meinen Sohn.

Wie schafften Sie es, in Tibet in dieser Höhe die enormen körperlichen Anstrengungen zu bewältigen und sich gleichzeitig noch auf ein Motiv zu konzentrieren, um im richtigen Augenblick den Auslöser zu drücken? Braucht man dafür so etwas wie ein „Fotografen-Gen“?     

Y. H.: Im Nachhinein ist es auch für mich schwierig, mich in gewisse Situationen zurückzuversetzen. In Tibet war alles sehr extrem. Die Höhe, die Kälte. Aber da ich ein Mensch bin, der die Dinge, die er sich in den Kopf gesetzt hat, auch durchzieht, bin ich in Tibet immer wieder an meine Grenzen gegangen. Geholfen hat mir dabei die gute Vorbereitung. Ich habe bereits in Deutschland gewisse Szenarien durchgespielt, die Einstellungen der Kamera durchdacht und getestet. Das hat es mir sehr viel leichter gemacht, in Tibet zu fotografieren.

Welche Leidenschaften haben Sie abgesehen vom Fotografieren und Reisen?     

Y. H.: Ich bin ein Bastler. Zu Hause mache ich gern alles selbst und freue mich über jedes kleine Bau-Projekt, was ich angehen kann. 

Was hat der Dalai Lama gesagt, als Sie ihm das fertige Buch überreicht haben und zeigten, dass Sie Ihr Versprechen eingelöst haben?     

Y. H.: Er nannte mich einen zähen Deutschen und fragte mich, woher ich mein volles dunkles Haar habe.

YORK HOVEST

York Hovest wurde 1978 in Wesel geboren und ist ein international erfolgreicher Werbe- und Modefotograf. Er lebt mit seiner Familie in München und arbeitet auf der ganzen Welt. Berührt von einem persönlichen Zusammentreffen mit dem Dalai Lama 2011 und inspiriert von dessen bewegenden Worten über das Schicksal seines Landes versprach er ihm, Tibet in Bild und Ton festzuhalten. Ein Jahre später brach er zu seiner 100-tägigen Reise auf das Dach der Welt auf.

yorkhovest.com

Picture credits © York Hovest


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